Zum versuchten Verdeckungsmord durch Unterlassen nach Medikamentenverwechslung bei einem Palliativpatienten durch Pflegekräfte.

Bundesgerichtshof, Urteil vom 19. August 2020 1 StR 474/19, LG Landshut

§§ 211, 22, 23 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB

Zum Sachverhalt

Nach den landgerichtlichen Feststellungen und Wertungen ist die Angekl. staatlich geprüfte Altenpflegerin und war als Wohnbereichsleiterin im Alten- und Pflegeheim S. in M. tätig. Dort war sie unter anderem für die Pflege des im Jahr 1950 geborenen Palliativpatienten und Geschädigten A zuständig.

Der Geschädigte befand sich seit dem 12.11.2015 in vollstationärer Unterbringung im Wohnbereich des Pflegeheims. Nach einem zweiwöchigen Krankenhausaufenthalt kehrte der schwerstkranke und schwerstpflegebedürftige Geschädigte, der unter unheilbaren Beschwerden litt, auf seinen Wunsch am 20.4.2016 in das Pflegeheim zurück. Bei dem Geschädigten bestand unter anderem eine dekompensierte schwerste Herzinsuffizienz, ein fortgeschrittenes Karzinom der Schilddrüse mit diffuser Knochenmetastasierung, eine Nierenschädigung mit Nierenmetastasen, eine Stauungspneumonie mit erheblicher Schädigung der Lunge sowie schwersten Einschränkungen des Bewegungsapparats. Er wurde zumindest für die Zeit nach dem Krankenhausaufenthalt – im Einklang mit seiner Patientenverfügung vom 11.7.2013 – palliativmedizinisch versorgt mit Schmerzmedikamenten, unter anderem Morphium, und befand sich in der „Terminalphase seiner Erkrankung“.

Am 7.5.2016 erhielt der Geschädigte im Rahmen der Essensausgabe gegen 11.30 Uhr versehentlich die Medikamente, die für die Mitpatientin H bestimmt waren, darunter das blutdrucksenkende Mittel „Valsartan“. Die Gabe dieses Medikaments konnte den kritischen Zustand des Geschädigten verstärken und lebensbedrohliche Komplikationen dadurch herbeiführen, dass ein Blutdruckabfall die ohnehin eingeschränkte Leistungsfähigkeit der Nieren weiter beeinträchtigen sowie bei der bestehenden Herzinsuffizienz den Eintritt eines Herzinfarkts begünstigen konnte.

Die Angekl. hatte zu dieser Zeit gemeinsam mit der nicht revidierenden Mitangekl. D Dienst, wobei ihr die Funktion der Schichtleiterin zukam. Sie hatte die Medikamente entgegen dem damaligen Sicherheitsstandard und den hausinternen Anweisungen nicht in dem beschrifteten Dispenser belassen, sondern in kleine Becher umgefüllt. Die Mitangekl. D stellte die Becher in Anwesenheit der Angekl. jeweils auf das Essenstablett. Wer von beiden letztlich die Medikamente verwechselte, konnte das LG nicht klären. Die Verwechslung wurde dadurch bemerkt, dass die Patientin H die Angekl. alsbald nach der Essensausgabe darauf hinwies, dass sie die falschen Medikamente erhalten habe. Der Geschädigte hatte die Medikamente zu diesem Zeitpunkt bereits eingenommen.

 

Medikamentenverwechslung – Unterlassen der Benachrichtigung eines Arztes

Der Angekl. und der Mitangekl. D war bewusst, dass sie bei einer Medikamentenverwechslung sofort einen Arzt hätten informieren müssen, damit dieser gegebenenfalls Gegenmaßnahmen in die Wege hätte leiten können. Sie unterließen jedoch die Benachrichtigung eines Arztes. Bei der Schichtübergabe gegen 13.30 Uhr unterrichtete die Angekl. den nicht revidierenden weiteren Mitangekl. P über die Medikamentenverwechslung. Die Frage des Mitangekl. P, ob schon ein Arzt informiert sei, verneinte die Angekl. und äußerte, dass dies nicht nötig sei; man solle zunächst abwarten und er solle öfter nach dem Gesundheitszustand des Geschädigten sehen. Nach einem weiteren Gespräch zwischen der Angekl. und dem Mitangekl. P informierte sich dieser selbst über den Gesundheitszustand des Geschädigten und stellte fest, dass der Geschädigte insbesondere an einem auffallend niedrigen Blutdruck litt. In einem anschließenden Telefonat mit der Angekl. berichtete er von dem verschlechterten Zustand und über seine Pflicht, jetzt einen Arzt zu informieren. Die Angekl. entgegnete: „Spinnst du, die sperren mich ein“ und bemerkte zudem, sie hoffe, dass der Geschädigte endlich sterben könne. Gegen 15.21 Uhr informierte der Mitangekl. P die spezialisierte ambulante Palliativversorgung und berichtete der Krankenschwester über die Zustandsverschlechterung des Patienten, ohne die Medikamentenverwechslung zu erwähnen.

 

Todesursache konnte nicht ermittelt werden

Am 9.5.2016 unterrichtete der Mitangekl. P eine Arztpraxis über den schlechten Gesundheitszustand des Geschädigten. Bei der nachfolgenden Untersuchung erfolgte wiederum kein Hinweis auf die Falschmedikation. Erst am 11.5.2016 informierte der Mitangekl. P den zuständigen Hausarzt T bei einem Besuch über die Medikamentenverwechslung. T entschied aufgrund des schlechten Zustands des Geschädigten, diesem lediglich eine Palliativversorgung – vor allem mit schmerzlindernden Medikamenten – zukommen zu lassen. Der Geschädigte verstarb am 14.5.2016. Die Todesursache konnte im Nachhinein nicht geklärt werden, da der Leichnam des Geschädigten bereits verbrannt war. Plausible Todesursache ist aufgrund der Vorerkrankungen und der Krankheitssymptome in der Zeit vom 7. bis 14.5.2016 ein Nieren- oder Herzversagen aufgrund eines am 9.5.2016 erlittenen Herzinfarkts. Naheliegend ist, dass die am 7.5.2016 fehlerhaft verabreichten Medikamente maßgeblichen Einfluss auf den Todeseintritt hatten, wobei eine derartige Kausalität nicht nachgewiesen werden konnte.

Das LG hat eine Strafbarkeit der Angekl. wegen versuchten Mordes durch Unterlassen angenommen. Die Angekl. habe – wie ihr bewusst gewesen sei – keine Kenntnis davon gehabt, welche konkreten Wirkungen und Nebenwirkungen die falschen Medikamente auf den Gesundheitszustand des Geschädigten entfalten konnten. Sie habe seit Kenntniserlangung von der Medikamentenverwechslung jedoch damit gerechnet, dass diese den Tod beschleunigen oder gar verursachen könnte und der Tod möglicherweise nur durch schnelle, ärztlich eingeleitete Gegenmaßnahmen zu verhindern wäre. Die Angekl. habe einen tödlichen Verlauf billigend in Kauf genommen, um die Fehlmedikation, die zudem pflichtwidrig nicht in der Krankenakte des Geschädigten dokumentiert wurde, zu vertuschen. Vor diesem Hintergrund hat das LG Landshut mit Urteil vom 21.5.2019 (101 Js 16927/17 Ks) die Angekl. wegen versuchten Mordes zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt.

Auf die Revision der Angekl. wurde dieses Urteil – unter Erstreckung auf die Mitangekl. D und P – mit den Feststellungen aufgehoben; die Sache wurde an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des LG zurückverwiesen.

 

Die Entscheidung kann im Volltext hier abgerufen werden.

 

Für Rückfragen stehen die Strafverteidiger Jens JanssenJan-Georg Wennekers und Dr. Jan-Carl Janssen, Anwaltsbüro im Hegarhaus, Freiburg zur Verfügung.