Bundesgerichts Urteil vom 8. Oktober 2020 – 4 StR 256/20
Wir weisen auf das Urteil des Bundesgerichts vom 8. Oktober 2020 (4 StR 256/20) zur Frage der Anordnung der Unterbringung gem. § 63 StGB hin.
Für die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gem. § 63 StGB ist es nicht ausreichend, dass einfache Körperverletzungen mit geringer Gewaltanwendung, ein Hausfriedensbruch und eine Bedrohung begangen wurden. § 63 S.1 StGB setzt voraus, dass „erhebliche rechtswidrige Taten“ zu erwarten sind. Erheblich im Sinne des § 63 S. 1 StGB sind solche Taten, die geeignet erscheinen, den Rechtsfrieden empfindlich bzw. schwer zu stören sowie das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen, und damit zumindest dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzuordnen sind. Die Erheblichkeit ist allerdings stets anhand der Umstände des konkreten Einzelfalls zu würdigen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Schuldunfähigkeit freigesprochen. Mit ihrer auf die Sachrüge gestützten Revision, die vom Generalbundesanwalt vertreten wird, wendet sich die Staatsanwaltschaft gegen die unterlassene Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.
I.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts leidet der Angeklagte jedenfalls seit 2017 an einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis. Die Erkrankung äußert sich in einem komplexen Wahnsystem mit ausgeprägt hohem Misstrauen und einer schwergradigen psychotischen Affektstörung. Am 22. Juli 2018 begab sich der Angeklagte gegen 5.20 Uhr zu einem Mehrfamilienhaus in E. , wo er auf das Plexiglasdach eines Carports kletterte. Auf dem Carportdach ging der Angeklagte zu einem verschlossenen Küchenfenster, wo die Zeugin S. ihn erblickte. Als der Angeklagte die Zeugin sah, deutete er mit einer Geste an, die Kehle der Zeugin durchschneiden zu wollen, indem er sich mit dem Daumen seiner linken Hand über seinen Hals fuhr. Der Angeklagte flüchtete, brach durch das Plexiglasdach und stürzte in den Innenhof (Fall 1). Unmittelbar danach begab er sich zu dem benachbarten Mehrfamilienhaus, wo er auf einen Balkon kletterte, ein Fenster aufbrach und so in den Flur des Mehrfamilienhauses gelangte. Dort trat er die Wohnungstür der Familie A. ein. In der Wohnung hob er die Badezimmertür aus den Angeln. Die Zeugin A. wachte durch den Lärm auf und ging in die Diele, wo sie auf den Angeklagten traf. Als dieser sich in das Zimmer der Tochter begeben wollte, hielt ihn die Zeugin am Arm fest, um ihn daran zu hindern. Daraufhin stieß der Angeklagte sie weg, so dass sie auf eine Windlichtlaterne fiel und sich dadurch am linken Unterarm eine Schwellung mit Hämatom und eine Schürfwunde zuzog. Die Zeugin war sieben Tage arbeitsunfähig und litt unter Ein- und Durchschlafstörungen (Fall 2).
Die Schuldfähigkeit des Angeklagten war bei beiden Taten im Sinne des § 20 StGB aufgrund einer krankhaften seelischen Störung sicher aufgehoben, da er krankheitsbedingt unfähig war, das Unrecht seines Tuns einzusehen. Nach den Feststellungen des Landgerichts hatte der Angeklagte bei den Taten das Gefühl, verfolgt zu werden und sich in wahnhafter Verkennung der Realität retten zu müssen.
2. Von der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus hat die Strafkammer aufgrund folgender Erwägungen abgesehen:
Der Angeklagte habe zwar im Fall 1 den Tatbestand der Bedrohung (§ 241 StGB), im Fall 2 tateinheitlich die Tatbestände des Hausfriedensbruchs (§ 123 Abs. 1 StGB), der vorsätzlichen Körperverletzung (§ 223 Abs. 1 StGB) und der Sachbeschädigung (§ 303 Abs. 1 StGB) verwirklicht. Diese Taten seien jedoch keine erheblichen Taten im Sinne des § 63 Satz 1 StGB. Es lägen auch keine besonderen Umstände vor, die die Erwartung rechtfertigten, dass der Angeklagte infolge seines Zustandes künftig erhebliche rechtswidrige Taten begehen werde (§ 63 Satz 2 StGB).
II.
Die Revision der Staatsanwaltschaft ist unbegründet. Der Freispruch des Angeklagten wegen Schuldunfähigkeit ist – was die Staatsanwaltschaft auch nicht beanstandet – rechtsfehlerfrei erfolgt. Auch die Ablehnung der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus weist keinen durchgreifenden Rechtsfehler auf. Zwar hat das Landgericht den Anlasstaten im Fall 2 ein zu geringes Gewicht beigemessen, der Senat kann jedoch ausschließen, dass die Gefahrenprognose hierauf beruht (§ 337 StPO).
1. Gemäß § 63 StGB ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, dass von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Erheblich im Sinne des § 63 Satz 1 StGB sind solche Taten, die geeignet erscheinen, den Rechtsfrieden empfindlich bzw. schwer zu stören sowie das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen, und damit zumindest dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzuordnen sind (vgl. BGH, Beschlüsse vom 18. Juli 2013 – 4 StR 168/13, NJW 2013, 3383; vom 13. Juni 2017 – 2 StR 24/17, NStZ-RR 2017, 308; BVerfG, Beschluss vom 24. Juli 2013 – 2 BvR 298/12, RuP 2014, 31).
Einfache Körperverletzungen im Sinne von § 223 Abs. 1 StGB, die nur mit geringer Gewaltanwendung verbunden sind und die Erheblichkeitsschwelle der tatbestandlich vorausgesetzten Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit lediglich unwesentlich überschreiten, reichen zwar grundsätzlich nicht aus (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juli 2018 – 3 StR 174/18, BGHR StGB § 63 Gefährlichkeit 37). Ebenfalls ist das Delikt des Hausfriedensbruchs (§ 123 Abs. 1 StGB) grundsätzlich der niedrigschwelligen Kriminalität zuzuordnen (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Januar 2009 – 4 StR 614/08, wistra 2009, 231; Beschluss vom 18. März 2008 – 4 StR 6/08, BeckRS 2008, 06872). Gleiches gilt für eine Bedrohung (§ 241 Abs. 1 StGB), wenn sie in ihrer konkreten Ausgestaltung aus der Sicht des Betroffenen nicht die naheliegende Gefahr ihrer Verwirklichung in sich trägt (BGH, Urteil vom 22. Dezember 2016 – 4 StR 359/16, StV 2017, 580, mwN). Die Erheblichkeit ist allerdings stets anhand der Umstände des konkreten Einzelfalls zu würdigen (BGH, Urteil vom 22. Dezember 2016 – 4 StR 359/16, StV 2017, 580; Beschluss vom 22. Februar 2011 ‒ 4 StR 635/10, NStZ-RR 2011, 202 mwN; BVerfG, Beschluss vom 2. Juli 2014 – 2 BvR 64/14, BtPrax 2014, 221).
2. Den Anforderungen an eine umfassende Würdigung der Anlasstaten im Fall 2 werden die Urteilsgründe nicht gerecht. Das Landgericht hat hinsichtlich des Hausfriedensbruchs und der vorsätzlichen Körperverletzung zum Nachteil der Zeugin A. nicht die zur Beurteilung der Erheblichkeit erforderliche Gesamtbetrachtung des Tatgeschehens vorgenommen, sondern diese Taten isoliert bewertet. Es hat nicht in den Blick genommen, dass die vorsätzliche Körperverletzung durch das wahnbedingte heftige Bestreben des Angeklagten, auf seiner Flucht in die räumliche Privatsphäre der Familie A. einzudringen, ein besonderes Gewicht erhalten hat. Zudem hat es die durch den körperlichen Übergriff eingetretenen Tatfolgen für die Zeugin A. in diesem Zusammenhang unberücksichtigt gelassen. Die Geschädigte erlitt nicht nur einen erheblichen Schock, sondern war ihren Angaben zufolge auch weiterhin – knapp eineinhalb Jahre nach der Tat – durch das Eindringen des Angeklagten in ihre Wohnung und sein dortiges Agieren verängstigt (UA S. 19).
3. Der Senat kann jedoch ausschließen, dass sich die fehlerhafte Bewertung des Schweregrades der Taten im Fall 2 auf die Gefährlichkeitsprognose ausgewirkt hat.
Das Landgericht hat zwar – aus seiner Sicht konsequent – die Gefahrenprognose nach Maßgabe des § 63 Satz 2 StGB geprüft. Diese Regelung erlegt dem Tatrichter indes nur eine besondere Sorgfalt an die Darlegung der Gefahrenprognose auf, wenn die Anlasstat niederschwellig ist. Umgekehrt indiziert eine erhebliche Anlasstat aber nicht ohne weiteres die künftige Gefährlichkeit des Täters. In jedem Fall bedarf es der gebotenen Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters und seines Vorlebens zur Begründung, dass auch künftig erhebliche Taten von ihm mit einer Wahrscheinlichkeit höheren Grades zu erwarten sind (vgl. BGH, Urteil vom 10. Januar 2019 – 1 StR 463/18; Beschluss vom 15. September 2016 – 4 StR 400/16). Diesen hohen Wahrscheinlichkeitsgrad für die Begehung künftiger erheblicher Taten hat das Landgericht mit tragfähiger Begründung nicht festzustellen vermocht.
a) Das Landgericht hat aus dem Tatgeschehen, dem Nachtatverhalten und dem Vorleben des Angeklagten den Schluss gezogen, dass vom Angeklagten aufgrund seiner krankheitsbedingten Verfolgungsideen körperliche Aggressionen allenfalls dann zu erwarten sind, wenn sie im Zusammenhang mit Fluchtreaktionen stehen, wobei sich diese dann aber im niederschwelligen Bereich bewegen. Das Landgericht hat sich nicht davon überzeugen können, dassüber ein „Wegschubsen“ zur Ermöglichung einer ungehinderten Flucht hinaus mit erheblichen Angriffshandlungen oder Begleittaten durch den Angeklagten mit der erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit zu rechnen ist. Rechtsfehlerfrei hat es zur Begründung darauf verwiesen, dass tragfähige Anhaltspunkte für solche Weiterungen im Aggressionsverhalten des Angeklagten nicht vorliegen.
b) Soweit das Landgericht bei Betrachtung der krankheitsbedingten Delinquenzentwicklung des Angeklagten auch auf das – von ihm zu gering bewertete – Gewicht der Anlasstaten im Fall 2 verwiesen hat, stellt dies die Annahme,die Gefährlichkeit des Angeklagten habe keine Steigerung erfahren, nicht in Frage. Denn das Landgericht hat diese Wertung maßgeblich auf das ebenfalls fluchtbestimmte Nachtatverhalten des Angeklagten gestützt, bei dem er sich zwar selbst, aber nicht andere Personen gefährdete oder verletzte. Gegen diese Wertung ist aus Rechtsgründen nichts zu erinnern.
c) Dass das Landgericht die den früheren Verurteilungen des Angeklagten vom 21. März 2017 und vom 8. August 2018 zugrundeliegenden Taten nicht in die Beurteilung der Gefahrenprognose einbezogen hat, ist ebenfalls nicht zu beanstanden. Wegen des Erfordernisses eines symptomatischen Zusammenhangs zwischen den zu erwartenden Taten und dem Zustand des Täters sind Taten, die in keinem irgendwie gearteten Zusammenhang mit seiner Erkrankung stehen, bei der Prüfung der Gefahrenprognose nicht ohne weiteres aussagekräftig (vgl. BGH, Urteil vom 21. April 1998 – 1 StR 103/98, NJW 1998, 2986; Beschluss vom 24. Juni 2004 – 4 StR 210/04, NStZ-RR 2004, 331). Das Landgericht hat die Vortaten rechtsfehlerfrei als nicht krankheitsbedingt gewertet. Aus ihnen ergeben sich auch keine Anhaltspunkte für die Annahme einer gewalttätigen Grundstruktur des Angeklagten.
d) Vor dem Hintergrund, dass der Angeklagte seit dem Jahr 2017 erkrankt und bis zu seiner Festnahme am 5. Juni 2019 lediglich mit dem Tatgeschehen vom Juli 2018 krankheitsbedingt in Erscheinung getreten ist, ist die tatrichterliche Würdigung der Gefahrenprognose, die auch im Übrigen frei von Lücken oder Widersprüchen ist, aus Rechtsgründen im Ergebnis daher nicht zu beanstanden.
Vorinstanz:
Essen, LG, 04.02.2020 ‒ 22 Js 675/18 52 KLs 25/19 6 Ss 231/20
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Für Rückfragen stehen die Strafverteidiger Jens Janssen, Jan-Georg Wennekers und Dr. Jan-Carl Janssen, Anwaltsbüro im Hegarhaus, Freiburg zur Verfügung.