Nach Art. 22 der Europäischen Erbrechtsverordnung kann für die Rechtsnachfolge von Todes wegen eine Rechtswahl getroffen werden (Wahl des Rechts desjenigen Staates, dem der Erblasser angehört). Dies eröffnet insbesondere deutschen Staatsangehörigen, welche ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland haben, oder eine Verlegung ihres Aufenthalts aus Deutschland weg für möglich halten, den Weg zum materiellen deutschen Erbrecht.
Die Bedeutung der Vorschrift zeigte sich jüngst in einer Entscheidung des OLG Frankfurt vom 14.9.2020 (Aktenzeichen 21 W 59/20):
Ein deutscher Staatsangehöriger verstarb 2017 in China. Er hielt sich seit 2004 aus beruflicher Veranlassung den überwiegenden Teil des Jahres in China auf und kehrte von dort nur während seines Urlaubs nach Deutschland zurück. 2007 erwarb er eine Immobilie in Deutschland, wo er sich sodann während seiner Urlaube aufhielt. Nach seinem Tod begehrte seine Tochter, ebenfalls deutsche Staatsangehörige, die Erteilung eines Erbscheins, wonach der Erblasser von ihr aufgrund deutschen Erbrecht zu beerben sei. Zur Begründung gab die Tochter an, der Erblasser, ihr Vater, habe seit dem Jahr 2007 den festen Plan verfolgt, spätestens als Rentner nach Deutschland zurückzukehren und gemeinsam mit seiner chinesischen Ehefrau in dem von ihm erworbenen Haus zu leben. Er habe daher seinen »gewöhnlichen Aufenthalt« im Sinne des Art. 21 der Europäischen Erbrechtsverordnung nicht in China, sondern in Deutschland gehabt, es komme deswegen deutsches Erbrecht zur Anwendung.
Der Erbschein-Antrag der Tochter wurde vom zuständigen Nachlassgericht abgewiesen, es komme das materielle Erbrecht der VR China zur Anwendung, da der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt in China gehabt habe. Im Rahmen der Beschwerde der Tochter war das OLG Frankfurt mit der Angelegenheit befasst und bestätigte in seinem Beschluss die Anwendung chinesischen Erbrechts, dies ebenfalls mit der Begründung, der Erblasser habe im Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt in China gehabt:
Der in der Erbrechtsverordnung verwendete Begriff des »gewöhnlichen Aufenthalts des Erblassers im Zeitpunkt seines Todes« sei anhand einer Gesamtbeurteilung der Umstände des jeweiligen Einzelfalls festzulegen (so auch durchgehend die EuGH-Rechtsprechung). Unter einem gewöhnlichen Aufenthalt ist dabei der durch Gesamtbeurteilung ermittelte Daseinsmittelpunkt einer Person im Sinne des Schwerpunkts ihrer familiären, sozialen und beruflichen Beziehungen zu verstehen. Dies erfordert eine Gesamtbeurteilung der Lebensumstände des Erblassers in den Jahren vor seinem Tod und im Zeitpunkt seines Todes unter Berücksichtigung aller relevanten Tatsachen, insbesondere der Dauer und der Regelmäßigkeit des Aufenthalts des Erblassers im Zweitstaat. Im Rahmen dieser Gesamtbetrachtung kann auch die Willensrichtung des Erblassers zu berücksichtigen sein (hier der Wille des Erblassers, als Rentner nach Deutschland zurückzukehren). Jedoch sind solche subjektiven Elemente nicht für sich allein geeignet, entgegen der objektiven Gestaltung der übrigen Lebensverhältnisse einen gewöhnlichen Aufenthalt (vorliegend also in Deutschland) zu begründen.
Grundsätzlich gilt: eine Mindestdauer des tatsächlichen Aufenthalts im Drittstaat (hier China) wird von Art. 21 der Europäischen Erbrechtsverordnung für die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts oder die Feststellung des dabei als subjektives Element abwägungsrelevanten Bleibewillens nicht gefordert. Schon ein Aufenthalt von wenigen Wochen kann ausreichend sein, um einen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne der Verordnung zu begründen. Denn der Aufenthaltsbegriff der Verordnung umfasst insoweit nur ein qualitatives, aber kein quantitatives Zeitelement. Demzufolge kann auch das (aufgrund eines fortbestehenden Rückenwillens für sich genommen geringere) Gewicht des einfachen Bleibewillens im Rahmen der Gesamtabwägung trotz bestehen gebliebenen Rückkehrwillens durch längere Dauer des Aufenthalts im Fremdstart und dortige Verwurzelung des Erblassers abgewogen werden. Ein vorbehaltsloser Bleibewille unter Ausschluss jeder Rückkehrabsicht ist für Art. 21 der Erbrechtsverordnung nicht erforderlich.
Im vom OLG Frankfurt zu entscheidenden Fall führte die Gesamtbeurteilung der Umstände des Einzelfalls zu der Bewertung, dass sich der gewöhnliche Aufenthalt des Erblassers im Zeitpunkt seines Todes in China befunden hatte. Gemäß Art. 20 der Europäischen Erbrechtsverordnung findet im vorliegenden Fall infolge des somit in China belegenen gewöhnlichen Aufenthalts des Erblassers auf den Erbfall das Erbrecht der VR China Anwendung, auch wenn es sich dabei nicht um das Erbrecht eines Mitgliedstaats der EU handelt.
Die Entscheidung des OLG Frankfurt zeigt einmal mehr, dass die Frage der Rechtswahl des Erblassers in Verfügungen von Todes wegen nicht vernachlässigt werden sollte. Häufig wird davon ausgegangen, das anwendbare Erbrecht richte sich nach der Staatsangehörigkeit einer Person. Dies ist jedoch gerade nicht der Fall: gemäß Art. 21 der Europäischen Erbrechtsverordnung unterliegt die gesamte Rechtsnachfolge von Todes wegen dem Recht des Staates, in dem der Erblasser – unabhängig von seiner Staatsangehörigkeit – im Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.
(In der Entscheidung des OLG ging es auch noch um die Frage der sogenannten Nachlassspaltung wegen im Inland gelegenen unbeweglichen Vermögens, siehe hierzu die Entscheidungsgründe des OLG)