Am 15.10.2020 hat der Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, dass ein Fall einer rechtsstaatswidrigen Tatprovokation vorliegt, wenn ein Verdeckter Ermittler eine nicht tatgeneigte Person dazu anstiftet, insg. über 100kg Kokain zu beschaffen.
Die Entscheidung CASE OF AKBAY AND OTHERS v. GERMANY (Application no. 40495/15 and 2 others) ist im Volltext hier abrufbar, siehe außerdem Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht (HRRS, 2020, Heft 11, S. 422 ff):
„Polizeiliche Tatprovokation (Begriff: mittelbare Tatprovokation – Bestimmtsein durch die polizeiliche Anstiftung; Recht auf ein faires Verfahren: hinreichende / unzureichende Kompensation der Tatprovokation – Ungenügen der Strafzumessungslösung, mindestens notwendiges Beweisverwertungsverbot; Individualbeschwerde (Beschwerdebefugnis der Angehörigen eines verstorbenen Angeklagten).
Art. 6 Abs. 1 EMRK; Art. 34 EMRK; Art. 41 EMRK
Leitsätze des Bearbeiters
1. (Weiterer) Einzelfall der mit einem Strafzumessungsabschlag nicht ausgeräumten Verletzung des Rechts auf ein faires Strafverfahren durch eine staatliche Tatprovokation.
2. Es ist Aufgabe der Polizei, Straftaten vorzubeugen und nicht, zu ihnen anzustiften. Das öffentliche Interesse an der Straftataufklärung rechtfertigt nicht den Rückgriff auf Beweise, die aus einer staatlichen Tatanstiftung herrühren. Alle aus einer polizeilichen Tatanstiftung entstammenden Beweise müssen aus dem Strafverfahren ausgeschlossen werden bzw. müssen vergleichbare Konsequenzen zum Beispiel durch die Annahme eines Verfahrenshindernisses gezogen werden. Niemand darf für eine Straftat bestraft werden, die durch eine staatliche Tatanstiftung bestimmt wurde. Dies gilt auch dann, wenn eine erhebliche Strafmilderung vorgesehen wird und der Angeklagte ein Geständnis abgelegt hat.
3. Eine gegen Art. 6 EMRK verstoßende mittelbare Tatprovokation kann auch vorliegen, wenn zwischen den provozierenden staatlichen Stellen und dem Provozierten zwar kein direkter Kontakt bestand, seine Tatbegehung jedoch auf der Provokation beruht und seine Einbeziehung für den Staat absehbar war. Erforderlich ist jedoch, dass die Tatmitwirkung als durch die Provokation bestimmt erscheint. Daran kann es fehlen, wenn der von einer Person übernommene Tatbeitrag nicht mehr unmittelbar Teil des von den Behörden selbst näher angestoßenen und als scheinbar sicher dargestellten Tatgeschehens war und es den Anschein hat, als habe der Betreffende schlicht eine sich bietende günstige Gelegenheit genutzt. Die Aburteilung einer kausal infolge einer unzulässigen Tatprovokation entstandenen Tatmitwirkung ist nicht stets ein Verstoß gegen Art. 6 EMRK.
4. Die Individualbeschwerde mit der Rüge einer unzulässigen Tatprovokation kann vor dem Hintergrund der konventionsrechtlich gebotenen Rechtsfolgen auch dann zulässig sein, wenn sie von einem nahen Angehörigen (hier: die Ehefrau) erhoben wird.“
Diese Entscheidung wird Auswirkungen auf die höchstrichterliche Rechtsprechung haben. Im Betäubungsmittelstrafrecht sind wir als Verteidiger immer wieder mit derartigen Fallkonstellationen befasst.
„Nach bisheriger Rspr. war jedwede staatliche Einwirkung auf das Tatgeschehen zu Gunsten des späteren Angeklagten bei der Strafzumessung zu berücksichtigen. In erster Linie handelte es sich dabei um die Fälle der Tatprovokation durch den Einsatz so genannter polizeilicher Lockspitzel, gleichgültig, ob es sich um Vertrauenspersonen, Informanten oder Verdeckte Ermittler handelt. Maßgebend für den Umfang der Strafmilderung war danach das Ausmaß der Einflussnahme, also die Intensität der Einwirkung durch den Staat auf den Täter, aber auch in welchem Maß der Täter tatgeeignet war und in welchem Umfang er eigene Aktivitäten entfaltet hat. In diesen Fällen reichte die Bandbreite der erforderlichen Strafmilderung von der Verneinung eines besonders schweren Falles über die Annahme eines minder schweren Falles bis hin zur Einstellung des Verfahrens nach §§ 153, 153a StPO bei Vergehen sowie bis zum Zurückgehen auf die gesetzliche Mindeststrafe bei Verbrechen.
In ganz besonderer Weise war die staatliche Tatprovokation dann strafmildernd zu berücksichtigen, wenn die rechtlich zulässigen Grenzen überschritten wurden. Nach – immer noch aktueller – BGH-Rspr. liegt eine rechtsstaatswidrige, gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK verstoßende Tatprovokation dann vor, wenn ein in staatlichem Auftrag handelnder Lockspitzel den von ihm in strafbares Tun verwickelten Täter tiefer in Schuld und Unrecht verstrickt, als es zu seiner Überführung und Bestrafung erforderlich ist oder wenn, noch gravierender, auf eine unverdächtige und zunächst nicht tatgeneigte Person durch eine dem Staat zuzurechnende Weise eingewirkt und diese zu einer Straftat verleitet wird, die dann zu einem Strafverfahren führt. Lag bereits ein Anfangsverdacht vor, kommt es darauf an, ob die Einwirkung im Verhältnis zum Anfangsverdacht unvertretbar übergewichtig war.“
(MüKoStGB/Maier, 4. Aufl. 2020, StGB § 46 Rn. 213, 214)
Art. 6 EMRK – Recht auf ein faires Verfahren
(1) 1Jede Person hat ein Recht darauf, daß über Streitigkeiten in bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. 2Das Urteil muß öffentlich verkündet werden; Presse und Öffentlichkeit können jedoch während des ganzen oder eines Teiles des Verfahrens ausgeschlossen werden, wenn dies im Interesse der Moral, der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit in einer demokratischen Gesellschaft liegt, wenn die Interessen von Jugendlichen oder der Schutz des Privatlebens der Prozeßparteien es verlangen oder – soweit das Gericht es für unbedingt erforderlich hält – wenn unter besonderen Umständen eine öffentliche Verhandlung die Interessen der Rechtspflege beeinträchtigen würde.
(2) Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.
(3) Jede angeklagte Person hat mindestens folgende Rechte:
a) innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihr verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden;
b) ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung ihrer Verteidigung zu haben;
c) sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen oder, falls ihr die Mittel zur Bezahlung fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist;
d) Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten;
e) unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher zu erhalten, wenn sie die Verhandlungssprache des Gerichts nicht versteht oder spricht.
Für Rückfragen stehen die Strafverteidiger Jens Janssen, Jan-Georg Wennekers und Dr. Jan-Carl Janssen, Anwaltsbüro im Hegarhaus, Freiburg zur Verfügung.